Ein Blick in die sozialen Medien genügt, um bei mir verschiedene Reaktionen hervorzurufen. Je nach Tagesverfassung sind es ungläubiges Kopfschütteln, neugieriges Staunen, stilles Lächeln oder glühender Zorn. Was diese Emotionen in mir auslöst? Die schiere Vielfalt an menschlichen Werthaltungen, Einstellungen, Meinungen, Ansichten und Perspektiven – aber vor allem die ungebremste Vehemenz, mit der sie aufeinanderprallen. Die Welt der Poster und Influencer ist allerdings nicht nur schwarz und weiß, sondern schillert in allen Farben. Wer glaubt, dass nur Gender-Gegner auf Gender-Befürworter treffen, wird überrascht sein, dass sich letztere untereinander vortrefflich darüber streiten können, ob denn ein „*“ oder ein „:“ vor der femininen Endung zu setzen sei. Liberale Trump-Gegner treffen auf libertäre Trump-Befürworter, genauso wie Merkel-Gegner auf Merkel-Befürworter losgehen. Doch wer glaubt, dass alle Trump-Gegner Merkel-Befürworter seien und vice versa, wird schnell eines Besseren belehrt. Verletzliche Menschen, die sich öffentlich im Weltschmerz suhlen, werden von Social-Media-Predatoren gemobbt, genauso wie sich links-egalitäre Gutmenschen und rechtskonservative Traditionalisten gegenseitig abschlachten.
„Gibt´s denn keine Mitte mehr?“, frage ich mich. Gibt es nur mehr ein „entweder-oder“ und kein „sowohl-als auch“? Gibt es nur noch die „Highlander-Mentalität“ („Es kann nur einen geben“) anstatt differenziert und optional denkenden Menschen? Ich ertappe mich dabei, wie ich mich selbstgefällig letzterer Personengruppe zurechne und ohrfeige mich gedanklich für meine Arroganz.
Flashback 1984, Gymnasium Oberstufe. Es gibt „Blöde“ und „G´scheite“. Schüler, die sich lauthals in den Vordergrund rücken und ihr Anerkennungsdefizit mit Provokationen ausgleichen. Drogen und Alkohol scheinen eine Rolle zu spielen. Schüler, die den Unterricht in Lethargie verschnarchen und ihre Eltern auf die Lehrer hetzen, wenn sie am Jahresende auf einem Fünfer stehen. Adulatoren und Ja-Sager, die den Lehrern nach dem Mund reden. Und jede Menge Weltanschauungen, von Nationalsozialismus bis Kommunismus, die lautstark und möglichst verhaltensauffällig in Schulheften oder Wänden zum Ausdruck gebracht werden. Inmitten dieses Tohuwabohus ein pensionsreifer Lehrer, der mich mit asiatischer Ruhe anlächelt und augenzwinkernd meint: „Der Herrgott hat einen großen Tiergarten.“ Ich zuckte damals verlegen mit den Achseln, unwissend, was er mir damit sagen will.
Jahre später – um viele Erfahrungen und psycho-soziale Ausbildungen reicher - versuche ich, diesen Satz richtig einzuordnen. Mein erster Gedanke: Wäre diese Äußerung heute ohne Dienstaufsichtsverfahren und Mediengeheul möglich? Ein Lehrer, der seine Schüler mit Tieren gleichsetzt? Ist das beleidigend, herabsetzend, geringschätzig? Wohl nur, wenn man sehr dünnhäutig ist, aber auch diese Menschen gibt´s. Ich versuche eine andere Deutung: der Lehrer ist sich der Diversität seiner Schutzbefohlenen bewusst, ist katholisch sozialisiert und besinnt sich daher auf ein Arche-Noah-Gleichnis. Seine Gottergebenheit gebietet ihm, der Vielfalt des Universums mit Achtsamkeit, Gleichmut und Gelassenheit zu begegnen. Die Andersartigkeit mancher Schüler und ihre Gegensätzlichkeit im Vergleich zu seiner eigenen Vorstellungswelt nimmt er einfach hin. Es ist halt einfach so – es gibt so viele Meinungen wie Menschen, und viele davon stehen in unauflösbarem Widerspruch zueinander. Das muss man einfach so stehen lassen können.
Flash forward in das Jahr 2020. „Der Herrgott hat einen großen Tiergarten“ ist heute für mich Ausdruck einer großzügigen Ambiguitätstoleranz – der Fähigkeit, mit schwer auszuhaltenden Widersprüchen und Gegensätzen gelassen umzugehen. Ich wünsche mir diese Fähigkeit für mich selbst und viele andere Menschen – in und außerhalb der sozialen Medien.
PS:
Für alle LeserInnen meines Blogs, die an werteorientierter Unternehmensführung interessiert sind: "Spannungsfelder im Topmanagement - Ein Praxisleitfaden für gute Corporate Governance" ist im September 2022 neu erschienen. Gute Einsichten bei dieser Lektüre wünscht,
Christoph Dietrich